Steffen Bohn
2014 veröffentlicht in der Publikation »we make versions«
Von der Geometrie des Abrupten
Auf der Suche nach Synonymen für das Adverb »abrupt« finde ich »unvermittelt«, »unzusammenhängend« und »abgebrochen«.
abrupt – unvermittelt
Die Forschung zur Physik des Abbrechens und der Brüche beschäftigt sich in erster Linie mit der Nukleation der Brüche und Risse. Ausgehend von einer mikroskopisch kleinen Fehlstelle, einer winzigen Unregelmäßigkeit, entsteht ein kleiner Riss, der sich – wenn er eine bestimmte Größe erreicht hat – mit großer Geschwindigkeit ausbreitet. So entstehen auch Risse, die man manchmal nicht einmal mehr mit dem bloßen Auge erkennen kann, die aber trotzdem Brücken zum einstürzen bringen können. Der Übergang vom Mikroskopischen zum Makroskopischen geschieht nicht kontinuierlich, sondern plötzlich, unvermittelt, abrupt.
Die mechanischen Spannungen, die zu den Rissen in bestimmten Keramikglasuren führen, haben ihren Ursprung im Unterschied der Wärmeausdehnungskoeffizienten der dünnen Glasurschicht und der Keramik (dem Substrat). Die Spannungen entstehen während der Abkühlung des Werkstücks; die Risse in der Keramik aber können noch Jahre, gar Jahrhunderte später entstehen. Anhand von diesem Beispiel können wir dem Begriff »unvermittelt« eine konkrete, quantitative Bedeutung geben: die Entstehung und Ausbreitung eines Risses dauert wenige Millisekunden. Die Zeit, die zwischen zwei aufeinanderfolgenden Rissen verstreicht, messen wir in Stunden. Das Verhältnis zwischen diesen zwei Zeitskalen ist ungefähr 1:1000 000.
Dieses Verhältnis bedeutet, dass zwei Brüche sich fast nie zur gleichen Zeit ausbreiten und deshalb auch nicht miteinander in Wechselwirkung treten können. Die Physik der Brüche ist streng hierarchisch: Zwar wird ein erster Bruch einen wichtigen Einfluss auf die folgenden haben (denn der erste entlädt einen Teil der mechanischen Spannung); Die späteren Brüche werden aber einen schon entstandenen Bruch nicht weiter verändern.
abrupt – unzusammenhängend
Die Risse in Keramikglasuren haben eine weitere, charakteristische Eigenschaft – die Teilung unabhängiger Flächen. Ein Riss breitet sich so lange aus, bis seine zwei Extremitäten auf andere Brüche treffen, um sich dann mit diesen zu verbinden. Ein Riss bildet so eine Trennlinie zwischen zwei Flächen. Man kann mit Hilfe von komplexen Berechnungen zeigen, dass diese zwei Flächen nun mechanisch unabhängig sind im physikalischen Sinne unzusammenhängend.
So bildet sich neben der zeitlichen Hierarchie eine weitere, geometrische Hierarchie: Eine Flasche z. B. wird durch einen Riss in zwei, von nun ab unabhängige Flaschen geteilt. Ein weiterer Bruch wird nun eine dieser Flächen wiederum zweiteilen, ein dritter Bruch wird dann eine der drei Flächen zerteilen usw.
abrupte Simulation
Die zwei abgebildeten Grafiken sind das Resultat einer einfachen Simulation. Ziel dieser grafischen Darstellung war es nicht, ein Rissmuster nachzubilden, sondern neue geometrische Muster abrupt entstehen zu lassen. Mit einfachen Regeln sowie dem Einfluss des Zufalls wurde so das Unvermittelte und das Unzusammenhängende digital generiert.
Steffen Bohn
CRACKS I
Ausstellung im Kunsthaus Hamburg, 2014
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