Ein Text von Britta Lange,
veröffentlicht 2018 in der Publikation Raumblüte

Ein Element, eine Schale, ein Nest

Ein Element, eine Schale, ein Nest. Eine Farbe, ein Stoff, eine Form. Mit Materialien lässt sich arbeiten, Materialien lassen sich befragen. Wie die Elemente der Welt sind Materialien nicht einfach da, sondern sie kommen in immer verschiedenen Konsistenzen, Gestalten, aber auch Funktionen und Räumen vor. Kerstin Stoll geht in ihren Versuchen der Veränderbarkeit und der Einbettung der Dinge nach, wenn sie Stoffe testet. Die Blackbox des Töpferofens schaltet exakte Prognosen über künftige Farb- und Formgebilde aus: Im Ofen entsteht aus Elementen etwas, das vorher nicht da war und nun in seiner Schönheit, Ekelhaftigkeit und Gewordenheit schimmert. Die verschiedenen Versuche ordnen sich zu Reihen und lassen den Anschein einer Systematik entstehen. Schalen sind halbe Kugeln, sind universelle Formen. Materialien verändern sich unter Hitze, unter Druck, aber auch unter der Frage, die das Experiment leitet. Eine Schale aus Lehm bringt einen anderen Zustand des Lehms hervor, als seine Lehmhütte.

Lehmhütten, Wespen- und Webervogelnester sind Behausungen, die Material zu einem Raum formen. Kerstin Stoll geht es in ihrer künstlerischen Forschung nicht darum zu zeigen, dass Menschen und Tiere immer schon gleich gebaut haben. Sie legt vielmehr offen, wie die Erbauenden sich Material zu eigen machen und nach ihren Bedürfnissen einen Raum im Raum schaffen. Die Unterscheidung von Natur und Kultur scheint sich im räumlichen und sozialen Handeln aufzulösen. Damit steht weit mehr auf dem Spiel als die Begriffe, die Sphären der Macht und des Einflusses voneiander abgrenzen. Webervögel schmücken ihre Nester, menschliche Bauten können ihre Materialeigenschaften nicht übergehen. Aus der Perspektive der Kulturwissenschaft wird daher die Frage produktiv, ob “Natur” ohne eine kulturell bestimmte Frage gedacht werden kann. Wenn Kerstin Stoll diese gemachten Räume von Tieren und Menschen in einen Ausstellungsraum bringt, gerät automatisch auch dieser unter Beobachtung. Die Konstruktionen werfen dem Ausstellungsraum die Frage zurück, was er tut – wie er die gebauten Räume verändert, die zugleich ihren ihn selbst als ihren Umraum verändern.

Ein räumlicher Reflexionsprozess wiederum bringt Modelle hervor. Sie sind weder Repräsentationen noch Fiktionen von Wohnungen, sondern eher Simulationen von formgwordenen Materialien einer möglichen Erfahrung und Interaktion mit den umgebenden Räumen. In ihrer Anlage von Modellen und ihrem Umweltverständnis begegnet Kerstin Stoll dem Künstler-Architekten Friedrich Kiesler, dessen „Correalismus“ aus seinem visionären, disziplinübergreifenden Denken lebt, das Architektur, Bildenden Kunst, Design, Biologie, Biotechnologie, Natur- und Kulturgeschichte zusammensieht. Kiesler geht davon aus, dass die Erfindung und Nutzung von Werkzeugen und Artefakten nicht allein eine Ausweitung menschlicher Fähigkeiten und Bedürfnisse beschreibt, sondern auch in umgekehrter Richtung gedacht werden kann: Werkzeugen etwa nehmen auf die biologische Entwicklung des Menschen Einfluss, was seine postulierte Vormachtstellung entkräftet mit einer wechselseitigen Durchdringung von verschieden AkteurInnen neu denkbar wird. Der Mensch steht dabei im Zentrum sich wechselseitig beeinflussender sozialer, natürlicher und technologischer Umgebungen. Idee, Form und Material wirken dabei gleichermaßen an Entwicklung von neuen Objekten und Visionen mit, die wiederum die Kräfte ihrer Erzeugung und Weiterentwicklung sichtbar werden lassen.

Der von Kerstin Stoll konstruierte Flug durch das Webervogelnest, der es nicht zerstört, bringt mögliche Erfahrungen hervor, und eine Lehmkugel am Boden des Nestes. Was wie ein fortgeschrittenes technisches Spiel wirkt, fordert komplexe Reflexionen über den Modus der Simulation heraus. Auf der Grundlage eines vorhandenen Objektes und von Messdaten entsteht eine Seh- und Raumerfahrung, die ohne die technologischen Instrumente und Settings nicht möglich wäre. In diesem Sinne handelt es sich um die fiktive Begehung des Nestes, Fiktion, die von Wissen und Daten ausgeht und diese über sich hinaus verlängert: Science Fiction. Doch zugleich machen die Betrachter*innen reale Erfahrungen. Sie sehen Räume und Farben, deren Darstellung jedoch willkürlich ist: Errechnete Räume könnten auch gelb oder rosa eingefärbt werden statt im Schwarzweiß der Nostalgie, der historischen Fotografie oder als Analogie auf die 0-1/Schwarz-Weiß-Prozessierung des Computers. Noch gibt es keine etablierten Praktiken, wie mit künstlichen Welten und simulierten Vorgängen gestalterisch, sozial und körperlich umzugehen ist. An einen Ort zu führen, der mehr als vorstellbar und dennoch nicht real existiert, ist kulturhistorisch gesehen eine mögliche Aufgabe der Kunst. Sie befragt nicht nur Objekte, sondern auch den Modus der Konstruktion und der Wahrnehmung des Ästhetischen. Ein Flug, eine Sicht, eine Frage. Eine Farbe, ein Stoff, eine Form. Ein Element, eine Schale, ein Nest. Ein Denken in Materialien und Modellen.

RAUMBLÜTE
Heidelberger Kunstverein, 2018/19

WESPENDISKO
Töpferwespennester, Spiegel, 2018

WESPENDISKO
Töpferwespennester, Spiegel, 2018

Mit Hilfe von KünstlerInnen und Wissen­schaftlerInnen habe ich aus unterschiedlichen Regionen der Welt Nester zusammengetragen. Manche der Lehmnester wurden im Ofen gebrannt und glasiert. Sie sind kleine Wunderwerke der Baukunst. In der Bionik hat man die Nester ihrer Stabilität und ihres perfekten Kälte­-Wäremaustauschverhaltens wegen genauer unter die Lupe genommen.

SPHEX
Töpferwespennester mit Weißgold glasiert, 2012/18

AMSELNEST – Anette
Fundstück, 2018

MODELLE
Keramik, 2016-2018

DOME
1 Tonne Erde, Weidenkonstruktion, Lehm, Stroh, Lehmziegel, Hanfseil, 2018/19

SPHERES II
31 Keramikschalen mit verschiedenen mineralischen Grundrohstoffen, 2018

SPHERES I
40 Keramikschalen mit je einem mineralischen Grundrohstoff, 2018

SCHWARZER RAUCHER (Eyjafjallaökull)
Keramik, 2018

GROTTA I (Eisenblüte)
Keramik, 2018

GROTTA III (Obsidian, Magnetit, Pyrit)
Keramik, 2018

WEBERVOGELNEST
VR-Animation, Milan Mehner, Kerstin Stoll, Joachim Weinhold, 2018

O.T.
Inkjet Prints, Kerstin Stoll und Joachim Weinhold, 120 x 80 cm, 2018/19
Webseite Nest

HIDDEN STONE II
Lasergesinterte Auschnitte des Webervogelnests, Kerstin Stoll, Samuel Jerichow, Joachim Weinhold, 8 x 8 x 8 cm, 2019